Januar 2022
Winterlinge
Und auf einmal steht es neben dir
Und auf einmal merkst du äußerlich:
Wieviel Kummer zu dir kam,
Wieviel Freundschaft leise von dir wich,
Alles Lachen von dir nahm.
Fragst verwundert in die Tage
Doch die Tage hallen leer.
Dann verkümmert deine Klage…
Du fragst niemanden mehr.
Lernst es endlich, dich zu fügen,
Von den Sorgen gezähmt.
Willst dich selber nicht belügen
Und erstickst es, was dich grämt.
Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
Längst zu lang ausgedehnt. – –
Und auf einmal – -: Steht es neben dir,
An dich angelehnt – –
Was?
Das, was du so lang ersehnt.
Joachim Ringelnatz (* 07.08.1883, † 17.11.1934)
Und auf einmal stand es neben mir, an meine Seele angelehnt
Was?
Das was ICH so lang ersehnt.
Am 30.01.2022 wurde in Maria Geburt die Neue Kirche geboren. Der 30.01.2022 sollte in den Kirchengeschichtsbüchern sorgfältig niedergeschrieben werden, denn es ist der Tag, an dem eine kleine Gemeinde Christen das gelebt hat, was Gläubige in diesen Tagen der implodierenden römischen katholischen Kirche verzweifelt suchen:
Kraft, Heilung, Gemeinsamkeit, Frieden und Neuanfang – miteinander und füreinander.
Es ist die Zeit der Aufklärung durch Erschütterung, der Erneuerung durch Zusammenbruch, des Sichtbarwerdens des bisher Unsichtbaren. So grausam es ist, so schwer zu ertragen, so befreiend ist es auch.
Ein Fremder sagte neulich zu einer Gruppe Betroffener, die sich für eine Solidaritätsaktion mit den Opfern von Pfarrer Ue. vor dem Landgericht in Köln positioniert hatte: „Ihr seid dabei Kirchengeschichte zu schreiben und in zwei Generationen werden Eure Taten von heute in den Schulbüchern stehen“.
Einigen der schon seit vielen Jahrzehnten kämpfenden Menschen dauerte das zu lange, sie wollten JETZT etwas erreichen, jetzt gehört und gesehen werden, jetzt von ihrer Last befreit werden. Und ihre Mitgefangenen jetzt befreien. Viele von ihnen sind am Rande ihrer Kräfte und ihres Lebens und sie haben so eine Sehnsucht nach Heilung, dass ihnen jeder weitere Tag Geduld wie eine unendliche Zumutung vorkommt. Dass sie Angst haben, es nicht mehr zu schaffen.
Für diese Menschen ist diese Geschichte der Winterlinge, geschrieben im Winter 2022. Denn ohne Euch gäbe es diese Geschichte nicht. Nicht ohne Euch und nicht ohne die mutigen Menschen der Kirchengemeinde Maria Geburt in Aschaffenburg.
Ich möchte Zeugnis geben von einem Wunder, einem Neuanfang, etwas was mich zutiefst berührt hat. Oder um es mit Hesses Wortens zu sagen „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ und den durfte ich als Teilnehmerin des ersten Solidaritätsgottesdienstes ohne Eucharistie erleben.
Auf einmal stand es neben mir, nein vor mir, auf einmal war ich mittendrin.
Gegen den Widerstand ihrer Leitungsebene im Bistum Würzburg hatte der Pfarrgemeinderat von Maria Geburt spontan beschlossen, drei Wochenenden zu „fasten“, auf die Eucharistiefeier zu verzichten und die Zeit schweigend mit und für Menschen zu verbringen, die sexualisierte Gewalt in der Kirche erlitten hatten. Die Berichte darüber stehen in vielen Zeitungen, aber das kleine Wunder, das sich dort ereignet hat, wird kaum erwähnt. Deshalb schreibe ich es hier auf, denn Wunder können meist nur die sehen, für die sie bestimmt sind.
Der Ablauf des Gottesdienstes (denn trotz aller kirchenrechtlichen Regelbrüche war es einer!) war einen Trilogie aus Hören, Schweigen und der Möglichkeit am offenen Mikrofon für alle Anwesenden etwas zu sagen.
Nach ein paar Beiträgen von Gemeindemitgliedern traute ich mich als Fremde aufzustehen und den anwesenden Menschen zu sagen, dass ich eine von denen bin, für die sie diese spezielle Zusammenkunft veranstalteten. Eine Betroffene sexualisierter Gewalt des Bistums Würzburg. Ich sagte, dass ich vor zwei Jahren nach Würzburg zurückgekommen sei, um aufzuarbeiten und mitzuhelfen, die schlimmen Taten an mir aufzuklären. Ich sagte – und da begann meine Stimme zu brechen – wie hart diese zwei Jahre waren und dass ich gegen viele Widerstände das Gefühl hatte, wenig erreicht zu haben. Ich bedankte mich bei den Organisatoren und allen Anwesenden für ihren unglaublichen Mut, mit dem sie diese Feier durchgesetzt hatten und sich nicht von ihrem Generalvikar einschüchtern ließen. Und ich sagte, wenn die Katholische Kirche noch eine Chance zu überleben hätte, dann sei sie hier und heute in dieser Gemeinde geboren worden.
Danach brach meine Stimme endgültig und mein Mut verschwand schlagartig. Am liebsten wäre ich nach dieser Öffnung unsichtbar geworden, aber diesen Wunsch erfüllt mir der anwesende Gott in dieser wunderschönen hellen, lichtdurchfluteten Kirche mit den einfarbig bunten Fenstern nicht. Ich setzte mich zurück in den Kreis und hielt die Stille aus, die Angst vor Blicken, das Schamgefühl, wenn man denkt, etwas Peinliches getan oder gesagt zu haben. Ich hielt es aus, nicht wegrennen zu können, wie ich es fast mein ganzes Leben getan hatte, mich nicht wieder verstecken zu können in der Anonymität des allgemeinen Leids der hunderttausend Unbekannten unter uns.
Und ich erlebte, dass die Welt um mich herum nicht zusammenbrach, sondern auferstand.
Nach einer kleinen Zeit, in der dem Nachklang meiner Worte Raum gegeben wurde, damit die anwesenden Menschen sie aufnehmen konnten, erhob sich aus den hinteren Reihen eine Frau mit einer himmelblauen Jacke, ging zum Mikrofon. Während ich noch die Luft anhielt, was sie jetzt sagen würde, drehte sie das Mikrofon und sich in meine Richtung und blickte mich direkt an, ohne Scheu und ohne Scham, während mir das Herz bis zum Hals zu klopfen anfing und das Gefühl der Sichtbarkeit und des Weglaufenwollens fast unaushaltbar wurde. Es war einer dieser Momente, in denen ich äußerlich ruhig wirke, aber innerlich ein „hauseigener“ Adrenalin-Cortisol-Serotonin-Cocktail in meine Blutbahnen schießt, mich gleichermaßen aufputscht und betäubt und die Realität ein Stück von mir wegrücken lässt. Es ist wie ein inneres Wegtreten, wenn es äußerlich nicht geht.
Die Traumaforschung sagt, dass diese Fähigkeit damals unser Überleben gesichert hat, und sie springt auch heute noch automatisch an, wenn sich äußere Situationen gefahrvoll anfühlen oder menschliche Nähe zu überwältigend wird.
Aber die Frau in der himmelblauen Jacke am Mikrofon ließ sich von all dem nicht irritieren. Sie dankte mit ruhiger und fester Stimme, die wie durch einen Wattebausch zu mir durchdrang, dass ich mich gezeigt hatte, sie wünschte mir viel Kraft und Heilung und die Erinnerung an die anderen Worte wurde wieder durch das wilde Rauschen des Hormonstromes hinweggespült. Aber ich spürte, dass sie dennoch direkt in meinem Herz landeten, wie ein warmes unbekanntes Gefühl von angenommen und unerwartet zuhause angekommen zu sein. Als würde das Zuhause gerade hier vor meinen Augen entstehen. Ich wünschte, jemand hätte diese Worte aufgenommen, damit ich sie nochmal in Ruhe und ohne Rauschen nachhören könnte. Aber wahrscheinlich sind es nicht die einzelnen Worte, sondern die gesamte Botschaft, die mich derart umarmt und eingehüllt hat.
Die letzten Worte der Frau in der himmelblauen Jacke waren (sinngemäß): Vielleicht habe ich mich auch schuldig gemacht, weil ich zulange weggesehen und geschwiegen habe, und dafür möchte ich mich bei Ihnen und allen Betroffenen, die wir noch nicht kennen und sehen, entschuldigen. Ich kann es nicht wieder gutmachen, was hinter mir liegt, aber ich kann es ab heute besser machen…..
Diese Worte waren heilig, an diesem heiligen Sonntagmorgen, denn sie haben mir etwas gegeben, wonach ich mich ein Leben lang gesehnt habe: ein Gesehenwerden und Angenommensein wie ich bin, mit allem was mich ausmacht. Ich habe solche aufrichtigen und aufrichtenden Worte nie von meiner Familie gehört, die sich immer abwandte, wenn ich von meinen Erfahrungen im Kinderheim erzählen wollte, ich habe sie nicht von den Ordensschwestern und nicht von den Verantwortlichen des Bistums gehört, trotz vieler Versuche, ihnen zu erklären, wie es mir mit ihrer schmerzhaften Abwehr geht.
(Es sind übrigens dieselben Personen, die im Vorfeld versucht haben, diesen Gottes Dienst zu unterbinden und damit diese für mich so wichtige Erfahrung unmöglich gemacht hätten.)
In keiner kirchlichen Messe meines Lebens konnte ich das fühlen und erfahren, was mir in diesem konventions- und ritualfreien Raum, in der Mitte dieser Christen, zuteil geworden ist: Zusammensein im Schmerz, gehalten und bestärkt zu werden, einfach dadurch, dass wir alle uns an diesem Sonntag auf einen neuen Weg gemacht haben. Statt einem geschmückten Altar fanden wir einen Tisch voller Winterlinge mit einem Spruchband vor. Diese durften wir als Zeichen des neuen Weges und zur Erinnerung an diese besonderen Momente mitnehmen, damit etwas Neues in unserem Leben und unseren Herzen wachsen und sich vermehren kann.
Der Spruch in meinem Töpfchen, den ich erst heute morgen zu lesen fähig war, beschreibt nochmal das, was ich erlebt habe in einem einzigen Satz und ist von Albert Camus: „Mitten im tiefsten Winter wurde mir endlich bewusst, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer wohnt…“
Danke lieber Gott für diesen Dienst Deiner Gemeinde Maria Geburt in Aschaffenburg. Von ganzen Herzen Danke!
Für alle anderen, die auch ein Töpfchen mitgenommen haben, hier noch die Vermehrungsanleitung aus dem Mein-Schöner-Garten-Portal, das ich immer befrage, wenn ich eine Blume noch nicht kenne:
Der Kleine Winterling (Eranthis hyemalis) zählt mit seinen gelben Schalenblüten zu den schönsten Winterblühern und heißt schon früh im Jahr den Frühling willkommen. Das Tolle ist: Nach der Blüte lassen sich Winterlinge leicht vermehren und im Garten ansiedeln. Einzeln oder in nur kleinen Gruppen kommt die etwa zehn Zentimeter große Knollenblume aus der Familie der Hahnenfußgewächse (Ranunculaceae) nämlich kaum zur Geltung. Doch das Motto des kleinen Frühblühers lautet: Gemeinsam sind wir stark! Und so kann man durch die Vermehrung der Winterlinge etwas nachhelfen, um schon bald in den Genuss leuchtender Blütenteppiche zu kommen. Wenn sich dann jährlich ab Ende Januar, Anfang Februar die Schneedecke lichtet und sich viele gelbe Blüten in die Höhe recken, schlagen die Herzen der Gärtner höher.
Eine Betroffene aus dem Bistum Würzburg