Dezember 2021
Ungeheuer gehorsam!
von Flora-Nike Göthin
Ich bin eine Frau aus dem 20. Jahrhundert.
Meine harte Kindheit hätte ich nicht überlebt, wenn ich gehorsam gewesen wäre. Es waren meine Widerspenstigkeit und die Kraft, die sich aus Wut entwickelt, welche mein Überleben gesichert haben. Und ein unbändiges Schreien, das zwar heute leiser scheint, aber mir manches Mal Freiräume verschafft (hat), die ich anders nicht bekommen konnte.
Es ist anstrengend, so leben zu müssen, mit einem Leben, das mehr Kampf als Frieden bedeutet, aber es ist immer noch besser als an Ungerechtigkeit zu sterben. Jung zu sterben, wie viele Kinder, die in die Hände von ungeheuer Gehorsamen fielen. Oder waren es gehorsame Ungeheuer?
So ganz schlüssig bin ich mir noch nicht, aber wir werden es herausfinden. Früher oder später.
Früher glaubte ich den Frommen, wenn sie ihren Gehorsam in mich hineinprügeln wollten, und mir sagten ich sei schuldig, sündig und schlecht.
Heute, glaube ich, dass die Dinge doch etwas anders liegen als sie scheinen. Besonders die heilig Scheinenden.
Sie nennen sich zum Beispiel die barmherzigen Schwestern vom göttlichen Erlöser.
Klingt das nicht, als ob…. sie besonders gut und den Menschen wohlgesonnen wären? Wie sich aufopfernde Wesen, die voller Güte verwahrloste Bastard-Kinder, aus sündigen Familien und schlechten Elternhäusern in Kinderbewahranstalten zu gehorsamen gut funktionierenden Erwachsenden formen?
Das waren zumindest die vordergründigen Begründungen, warum ihnen Anwesen und Summen großen Vermögens von kinderlosen Ehepaaren vererbt wurden, unter der Bedingung, dass sie sich der genannten Abfallkinder annahmen und ihnen ein liebevolles gutes Zuhause gäben. So geschehen in Würzburg und Eltmann, beides Mal 1907.
Die ungeheuer Gehorsamen zusammen mit den ungeheuer Ungehorsamen hinter dicken Mauern versteckt.
Eine gemeine (doppelter Wortsinn!) Klosterschwester muss ihrer Oberin gehorchen. Die Oberin gehorcht dann dem weit über ihr stehenden Gemeindepriester, der wiederum seinem Generalvikar, der seinem Bischof und der dem Papst.
All diese Menschen versprechen dem nächsthöheren Gehorsam.
Der Einzige, der anscheinend niemandem gehorchen muss, außer einem unsichtbaren Gott im Himmel, ist der Papst. Also der Einzige auf dieser Pyramide, der dort oben Luft bekommt. Kein Wunder, dass jeder alles tut, um weiter nach oben zu kommen. Jeder will Papst werden. Um der guten freien Luft willen, um des freien Willens willen. Dem Himmel so nah.
Nur die Frauen wollen es nicht. Sie wurden angeblich von Gott nicht dafür vorgesehen, und egal wie viel sie jeden Tag beten – so ca. fünfmal täglich – sie können sich nicht aus ihrer misslichen unterwürfigen Lage befreien.
Das einzige, was noch unter ihnen steht sind die Kinder und sonstige Kriechtiere zu ihren Füßen.
Und manchmal treten sie mit ihren Füßen danach, denn sie können sich nur nach unten ausstrecken, ihren Frust, ihre Wut nach unten ablassen. Nach oben gibt es dafür keinen Platz, da beugt sie der Gehorsam, den sie bei ihrer Weihe versprochen haben.
Die Dienerinnen Gottes, wie sie auch genannt werden, sehen sich daher im Recht und haben keine Skrupel, wenn sich die Kriechtiere und Kinder unter ihren Füßen winden, weil sie danach treten. Ihr Horizont ist das Selbstverständnis ihrer Demut.
Als Frau des 20. Jahrhunderts, die unter den Füßen solcher Nonnen hervorgekrochen ist, und dann die Scherben ihres zerbrochenen Kinderlebens mühsam aber beharrlich zu einem Mosaik zusammensetzte, kann ich all das, was ich als Erwachsene sehe, nicht glauben.
Ich kann nicht glauben, dass ein Nonnenleben befriedigend ist, ich kann nicht glauben, dass der Gehorsam ungeheuer glücklich macht, ich kann nicht verstehen, wie erwachsene, teilweise studierte Menschen in solchen Strukturen freiwillig leben können. Ich kann nicht glauben, dass sie all das glauben, was sie predigen.
Und siehe da, je mehr die Fassade des ungeheuren Gehorsams aufbricht, desto ungeheuerlicher wird das sichtbar Werdende.
Oktober 2021
Tischlein deck Dich, Esel streck Dich…
Wie die Kirche mit ihrer Aufarbeitung ein Märchen wiederbelebt
von Flora-Nike Göthin
Jeder Betroffene hat eine Leidensgeschichte, die seine Seele im Laufe des Lebens gegerbt hat. Diese Geschichte ist Gold wert, wie sich im Zuge der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch durch Kleriker und Ordensangehörige dem aufmerksamen Beobachter erschließt.
Und Betroffene haben gelernt ihre Umwelt aufmerksam zu studieren, denn es war ihre einzige Überlebenschance.
Was Betroffene von anderen Kindern unterscheidet, die in Sicherheit und Geborgenheit aufwachsen dürfen, geliebt, gefördert und unterstützt bis sie als Erwachsene ihr Leben selbst gestalten können, ist, dass ihnen genau das alles vorenthalten wird.
Aus Gründen, die sie nie selbst zu verantworten haben, geraten sie noch wehrlos und voll kindlichem Vertrauen in die Hände von „Vätern“, die sie ausnutzen und wenn sie nicht mehr zu gebrauchen sind, prügelnd vom Hof jagen. Verunsichert und suchend begegnen dann vielen falschen Wirten, die sie ausbeuten und austricksen und ihnen das Wertvollste nehmen.
Wieder und wieder müssen sie zusehen, wie sich der reiche Tisch für andere deckt. Und auch ihr selbstverdienter Dukatenesel, der sie für ihre überragenden Trotz-allem-Leistungen belohnen sollte, spuckt sein Gold in die Hände derer, die nichts dafür tun müssen, außer das Vertrauen der jetzt erwachsenen und noch immer gutgläubigen Kinder des Leids ein weiteres Mal zu missbrauchen.
Wenn ich mir die Aufarbeitungsgeschichte der Kirche von der ersten Welle 2010 bis 2021 so ansehe, dann erkenne ich, dass die Mühsal weiter nur bei den Betroffenen liegt und der Gewinn bei den Profiteuren unseres Leids.
Damals wie heute, schreiben die Akteure die Geschichte weiter.
Mit Gier, Heuchelei und Lügen, mit Intrigen, Täuschung und kalten Herzen, vor allem dort, wo in goldenen Lettern Barmherzigkeit auf den Fahnen steht.
Betroffene haben eine Leidensgeschichte, deren Anerkennung ein Teil der Heilung sein könnte. Aber die Anerkennung des Leids ist eine Mogelpackung, die mehr verspricht als sie hält.
Die vorgetäuschte Anerkennung, das Zuhören, das Wahr-Nehmen ist in Wahrheit ein Geschäftsmodell geworden: Du erzählst mir Deine Geschichte und ich mache sie zu Geld – von dem Du aber nichts bekommst.
Das ist der Deal.
Unsere Leidensgeschichten werden eingespeist in ein Wirtschaftssystem, das nichts verliert, denn es ist ein geschlossener Kreislauf von Machthabern, die zwar so tun, als ob sie etwas täten, aber in Wirklichkeit nichts tun.
Die Verblendung ihrer Selbstwahrnehmung strahlt so auf andere über, dass der klare Blick und das wahre Wort fast unmöglich sind.
Die Selbstbe-Weihräucherung erzeugt auch im Jahr 2021 noch einen Nebel, der vieles undurchsichtig sein lässt, was sowieso keiner sehen soll.
In unserem Bistum wurde jüngst eine neue universitäre Studiengruppe der katholischen Fakultät berufen, die in sechs Jahren eine historische Aufarbeitung mit Täternennung und Strukturaufdeckung zum Ziel hat.
Pikanterweise ist der Sitz dieser Fakultät in den Gebäuden einer der mächtigsten Täterorden in unserer Stadt, welche durch die Miete für ihre Klosterräume wieder an der Arbeit der Studiengruppe mitverdienen.
Wer glaubt an Neutralität und Unbefangenheit der sogenannten unabhängigen Studie?
In sechs Jahren haben die Menschen außerdem vergessen, was das Ziel der Gruppe war, wer sie sind, welche Rolle sie in dem verwirrenden Geflecht der vielen kirchlichen Aufarbeitungsprojekte spielen.
Aber genau DAS ist das Ziel.
Die Ablenkung vom Wesentlichen.
Das Wesentliche ist weiterhin das Ausbeuten der Leidensgeschichten, nicht – wie versprochen – die Klärung und Wiedergutmachung.
In sechs Jahren werden einige findige Juristen es zu verhindern wissen, dass Täter benannt werden, und wenn, dann nur die toten, derer man leider nicht mehr habhaft wird. Und deren Totenruhe man auch nicht mit Verleumdungen stören will, denn sie können sich ja nicht mehr wehren.
Wenn die Betroffenen sich dann auch dezimiert haben, durch Corona, Enttäuschung, verlorene Hoffnung und das Retraumatisierungskarussell in der Aufarbeitungspandemie der Kirche, wird auch niemand mehr danach fragen.
Aber sicher ist, dass in den sechs Jahren, wie auch in den letzten 10, 20 und 60 Jahren, die Ausbeutung und der Missbrauch menschlichen Leidens weitergeht und andere sich gütlich daran bereichert haben werden.
Der Tisch mit den besten Köstlichkeiten deckt sich wieder für die, denen es noch nie an etwas gemangelt hat und das Gold der Esel nehmen sie, auch wenn es aus den Hintern kommt, derer sie sich schon früher zu ihrem Vergnügen bedient haben.
Für das Volk der Betroffenen und Betrogenen bleibt am Ende nichts als Brot und (Intrigen-)Spiele.
Das hat schon im Römischen Reich funktioniert und tut es auch noch heute noch.
Der goldene Kelch und der Tabernakel, aus dem sie in feierlicher Zeremonie den Leib Christi entnehmen, um ihn gönnerhaft mit dem Volk zu teilen, bleibt am Ende wieder bei ihnen.
Sie trinken den Wein, während die Blutenden nicht wissen, woher sie das Wasser für ihre Wundenwaschung nehmen sollen.
Die geweihte Oblate, die so feierlich auf den Zungen der betenden und Gott sei Dank dann schweigenden Gläubigen vergeht, war vorher in einem Plastiksack in der Sakristei mit tausend anderen aufbewahrt und der Einkaufswert unterschreitet bei weitem, was die Gläubigen dafür zu geben bereit sind.
Vom Klingelbeutel, über die Kirchensteuer bis zu den Erbnachlässen, die barmherzigen Nonnen für ihre Krankenpflege und für die letzte Ölung des Pfarrer der Kirche überschrieben werden.
Ein geschlossener Kreislauf, der nichts verliert aber beständig neues Gold aufnimmt.
Und jetzt das Gold von den Leidensgeschichten der alten grauen Eselsherde, die zwar etwas lästig und stur daherkommt, aber mit ein paar Zauberworten immer wieder neues Gold in den Kreislauf pumpt.
„Bricklebri“…. Frischgold sozusagen, von denen, die früher schon als Frischfleisch sehr ergiebig waren.
Ich habe mal eine Liste derer zusammengestellt, die mit dem Studium unserer Akten, der Verwendung und dem Weiterverkauf unserer Daten und anderen parasitären Aktionismen die Scheiße in unserem Leben in Gold und Ehre für sich verwandeln:
Bischöfe, Priester, Bistumspersonal, Missbrauchsbeauftragte, Gutachter, Staatsanwälte, Anwaltskanzleien und deren Personal, Therapeuten, Wissenschaftler und deren Mitarbeiter, Kliniken, Ärzte und deren Personal, Journalisten, Fernsehsender, die hochdotierten Mitglieder der UKA, ehemalige Richter von OLG, LSG, BSG, die mit einem zweiten Leben (oder Januskopf) plötzlich auf die Aufklärerseite wechseln wo sie vorher nur die berechtigten Opferentschädigungsansprüche abgewehrt haben, Präsidenten derselben und der gesamte Justizapparat, der an den für Betroffene unsäglichen OEG-Prozessen hängt, Versorgungsämter, Jugendämter, Politiker, die sich für Änderungen einsetzen oder Geld kassieren, damit sie es unterlassen, Ordensgemeinschaften und deren Personal, sogenannte Opferorganisationen, die sich den Täterorganisationen als Berater andienen….usw. usw. (die Liste kann gerne weiter ergänzt werden)
All diese Menschen profitieren von unserem Leid. Sie finanzieren mindestens ihren Lebensunterhalt damit oder erschaffen sich damit ein lukratives Nebeneinkommen.
Manche von ihnen auf dem langen Überlebensweg erweisen sich als hilfreich, aber die meisten der o.g. Begegnungen haben mir neue Steine in den Weg geworfen. Felsbrocken, ganze Berge, dicke Mauern aus Schweigen und Ablehnung begleitet von Diskriminierung und Demütigungen, wenn sie mich wie eine arme Bettlerin von ihren reichen Höfen jagten.
Mich und viele viele andere.
Aber nicht ohne vorher unser Wertvollstes an sich zu nehmen: unsere Leidensgeschichte, die gut dokumentiert in den bischöflichen und juristischen Akten zu deren Eigentum wird und jedem zur Verfügung gestellt werden kann, meist ohne Rücksprache mit oder Gegenleistung für uns.
Im Dienst der Aufklärung, der Wissenschaft, der Wahrheitsfindung oder zur besseren Vertuschung durch Vernichtung der Täterakten, die ja nur bekannt werden, wenn wir sie im geschlossenen Kämmerlein benennen.
Es ist ein grausames Spiel, wenn man genau hinsieht.
Und es verdient nichts anderes, als das, was am Ende des Tischlein-deck-dich-Märchens für Gerechtigkeit und Beendigung des Leides sorgt:
der Knüppel aus dem Sack!
Zwar ist Gewalt in der Regel keine Lösung, aber die Symbolik der Grimm‘schen Märchen hat mich gelehrt, dass am Ende immer die Guten siegen und die Bösen ihre gerechte Strafe ereilt.
Und daran glaubt der kleine heile Kern in meiner Seele, den ich durch die Jahrzehnte und die Wirren meines Lebens retten konnte, noch immer.
Daraus speisen sich meine Überlebenskraft, mein Wiederaufstehwille, die Hoffnung, der Mut und die Kraft, welche der Motor sind, der mich antreibt nicht aufzugeben, bevor wir unser Ziel erreicht haben.
Ein anderer faszinierender Held meiner Kindheit hat mich nämlich das Wesentlichste gelehrt und langsam erschließt sich mir auch sein Geheimnis, das da heißt:
Das Stehaufmännchen zeigt erst im Umfallen was es kann!